4 Streit um Schuld und Mitverantwortung

»Spruchkammerverfahren« gegen Hitler – Blick auf den symbolisch leeren Stuhl, München, 15. Oktober 1948 Solche Verfahren wurden auch gegen Verstorbene durchgeführt. Die Spruchkammer München I verfügte, dass der in Bayern befindliche Nachlass Hitlers vollständig einzuziehen sei.

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Die vier Landeskirchen Nordelbiens gingen bei ihrer »Selbstreinigung« unterschiedliche Wege. Während die Lübecker Landeskirche Geistliche der »Deutschen Christen« konsequent aus ihren Ämtern entfernte, nahm Eutin hochgradig NS-belastete Theologen auf.

Schleswig-Holstein und Hamburg führten größtenteils die Zusammenarbeit mit vormals regimetreuen Kirchenleuten fort. Nur wenige radikale Theologen der »Deutschen Christen« mussten aus dem Dienst ausscheiden. Unter ihnen war der ehemalige Pastor an der Hamburger Hauptkirche St. Jacobi, Robert Stuewer, der in der NS-Zeit den Gebrauch hebräischer Begriffe wie »Halleluja« und »Amen« in seinen Gottesdiensten untersagt hatte.

In der Ausstellung wird der Streit um Schuld und Mitverantwortung am unterschiedlichen Umgang mit NS-belasteten Theologen in den Landeskirchen Eutin und Lübeck nachvollzogen. Darüber hinaus werden NS-Täter in den Reihen der Kirche nach 1945 behandelt und der Umgang mit der »Stuttgarter Schulderklärung« dargelegt. Diese traf vor allem in Norddeutschland auf heftige Ablehnung.

»Er war in seiner gütigen Art großherzig genug, in der Eutiner Landeskirche auch denen Zuflucht zu gewähren, die in den notvollen Nachkriegsjahren anderswo Schwierigkeiten ausgesetzt waren.«

Der Heimatforscher Otto Rönnpag 1966 in seiner Festschrift für Wilhelm Kieckbusch über die Aufnahme von ehemals »deutschchristlichen« Theologen durch den Eutiner Bischof

»Ein Landespropst oder Bischof … hat ein Eiland geschaffen, auf dem sich erhalten, auf das sich retten konnte, was anderswo untergegangen oder untergetaucht ist und was wir im Interesse der Gesamtkirche nicht übersehen sollten.«

Der damalige Vorsitzende des Rates der EKD Kurt Scharf bestätigte 1966, dass Kieckbuschs Aufnahme-Praxis für die Gesamtkirche von Vorteil war.

»Weil ich in meinem Dienst als Jugendpfarrer und schlichter Gemeindepastor es weder wünschte noch ahnen konnte, dass jemals wieder von meiner Vergangenheit so viel Aufhebens gemacht würde … «

Antwort des ehemaligen nationalsozialistischen Präsidenten beziehungsweise Bischofs der Thüringer Landeskirche, Hugo Rönck, im Jahr 1963 auf die Frage, warum er nicht früher Zeugnis über seine NSVergangenheit abgelegt habe

»Die Religion, die durch alle Zeiten die Schwachen gestärkt hat, … ist jedes Menschen eigene Bestimmung; dass aber ein Diener des Evangeliums auf dem Umweg über das Nazitum an Massenhinrichtungen teilnahm, ist eine Tatsache, die man nicht unbemerkt vor übergehen lassen kann. Als das Hakenkreuz das Kreuz ersetzte und »Mein Kampf« die Bibel verdrängte, ging das deutsche Volk unvermeidlich dem Unheil entgegen. …«

Richter Michael A. Musmanno über Ernst Biberstein 1948 in seinem Urteilsspruch im Nürnberger »Einsatzgruppen-Prozess«

»Wir können uns nicht denken, dass solche Entschließungen in der Leitung der EKiD gefasst sind, die einer Würdelosigkeit der Deutschen Vorschub leisten.«

Die Altonaer Pastoren Laackmann, Petersen und Waßner brachten in ihrem Brief vom 25.10.1945 an die »Vorläufige Kirchenleitung« ihre Empörung über die Stuttgarter Schulderklärung zum Ausdruck.

»Und der Eutiner Mülleimer ist auch schon voll!«

Der damalige Hamburger Landesbischof Karl Witte suchte Anfang der 1960er Jahre einen Aufnahmeort für einen unliebsamen Pastor. Der Ausspruch ist überliefert von Roland Linck, damals Pastor im Hamburger »Rauhen Haus«.

»Es waren Bolschewisten und der Bolschewismus predigt und unterstützt die Gottlosenbewegung. … Man soll nicht Perlen vor die Säue werfen.«

Der evangelische Theologe und NS-Verbrecher Ernst Biberstein 1947 im Nürnberger »Einsatzgruppen-Prozess« auf die Frage, warum er den Opfern der Massenexekutionen keinen geistlichen Beistand geleistet habe

»Sie [die Einstweilige Hamburger Kirchenleitung] sieht in dieser Erklärung ein nicht zu rechtfertigendes Eingeständnis einer einseitigen Kriegsschuld und vermisst ein Wort der gemeinsamen Schuld aller Völker.«

Hintergrund: Der Streit um Schuld und Mitverantwortung

Uneinsichtigkeit und Schweigen prägten in den nordelbischen Landeskirchen den Umgang mit der NS-Vergangenheit während der ersten Nachkriegsjahrzehnte. Die Entnazifizierung überließ die britische Besatzungsmacht den vier Landeskirchen weitgehend in Eigenregie. Diese gingen bei ihrer »Selbstreinigung« unterschiedliche Wege. Während die Lübecker Landeskirche Geistliche der »Deutschen Christen« konsequent aus ihren Ämtern entfernte, nahm Eutin hochgradig NS-belastete Theologen auf. Schleswig-Holstein und Hamburg führten größtenteils die Zusammenarbeit mit vormals regimetreuen Kirchenleuten fort. So durften die ehemaligen NSDAP-Mitglieder Herbert Bührke und Oskar Epha in Schleswig-Holstein nach 1945 die prestigereiche Funktion des Kirchenamtspräsidenten ausüben. Die Versorgung der Mitbrüder stand im Vordergrund. Eine Auseinandersetzung mit ihrer NS-Vergangenheit fand nicht statt. Nur wenige radikale Theologen der »Deutschen Christen« mussten aus dem Dienst ausscheiden. Unter ihnen war der ehemalige Pastor an der Hamburger Hauptkirche St. Jacobi, Robert Stuewer, der in der NS-Zeit den Gebrauch hebräischer Begriffe wie »Halleluja« und »Amen« in seinen Gottesdiensten untersagt hatte.

Erst ab 1964 legte man umfassende Untersuchungen zur Situation der vier Landeskirchen in der NS-Zeit vor. Eine von der EKD berufene Kommission für die Geschichte des »Kirchenkampfes« unter der Leitung des Kirchenhistorikers und früheren Mitglieds der Bekennenden Kirche, Kurt Dietrich Schmidt, begann mit der Herausgabe regionaler Einzelstudien. Auch an der Theologischen Fakultät der Kieler Universität setzte erst im Zuge der Studentenbewegung ab 1967 eine öffentliche Auseinandersetzung mit der NS-Vergangenheit des dortigen Theologieprofessors Martin Redeker ein. Der ehemalige Mitarbeiter am Eisenacher »Institut zur Erforschung und Beseitigung des jüdischen Einflusses auf das deutsche kirchliche Leben« hatte nach 1945 seine Universitäts-Karriere fortsetzen können. Er schwieg zu seinem aggressiven Antisemitismus in der NS-Zeit. Stattdessen stilisierte er sich durch Verdrehung der Fakten zum Kritiker des NS-Regimes und Beschützer verfolgter Juden im Zweiten Weltkrieg.

Oberkirchenrat Theodor Knolle, der damalige Ratsvorsitzende der EKD Otto Dibelius, der Hamburger Bürgermeister Max Brauer und Landesbischof Simon Schöffel,
Hamburg, 1. Juni 1950
Die beiden Hamburger Nachkriegsbischöfe Schöffel und Knolle hatten 1933/34 als Landesbischof beziehungsweise Generalsuperintendent den Nationalsozialismus zunächst begrüßt.
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Beispiel: Umgang mit der »Stuttgarter Schulderklärung« vom 19. Oktober 1945

Mitglieder des Rates der EKD in Stuttgart, Oktober 1945
Von links: Pastor Martin Niemöller (stellvertretender Vorsitzender, später Kirchenpräsident von Hessen-Nassau), Pastor Wilhelm Niesel (später Präses und Moderator des Reformierten Bundes), Theophil Wurm (Vorsitzender und Württembergischer Landesbischof), Hans Meiser (Bayerischer Landesbischof), Superintendent Heinrich Held (später Präses der Rheinischen Landeskirche), Oberlandeskirchenrat Hanns Lilje (später Landesbischof Hannover), Otto Dibelius (Bischof von Berlin-Brandenburg)
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Unmittelbar nach Kriegsende hatte die Schleswig-Holsteinische Landeskirche noch Bereitschaft zur kritischen Reflexion gezeigt. Der spätere Bischof Halfmann rief am 6. Mai 1945 zur Bußfertigkeit auf und sprach von der »Schuld unseres Volkes«. Wenig später warnte er jedoch in einem Rundbrief: »Vorsicht, dass wir nicht in der Schande wühlen«. Für den Hamburger Landesbischof waren die »Hauptschuldigen« am Zweiten Weltkrieg die »Sieger von 1918 und 1945, … niemals aber das deutsche Volk«. Der Lübecker Propst Johannes Pautke, ab 1948 Bischof der Evangelisch- Lutherischen Kirche in Lübeck, beschrieb die Situation der Deutschen sogar als »Vernichtung«.

Die viel zitierte »Stuttgarter Schulderklärung« des Rates der neu gegründeten EKD vom 19. Oktober 1945 ist ein aufschlussreiches Zeugnis für die Zwiespältigkeit jener Zeit. Ihre Kernsätze sind von einer eigenartigen Mischung aus Selbstmitleid und Selbstmystifizierung geprägt. Zwar beginnt die Erklärung mit dem von Martin Niemöller durchgesetzten Eingeständnis, »unendliches Leid über viele Länder und Völker gebracht zu haben«. Das im Folgesatz gezeichnete Bild einer Kirche im geschlossenen Widerstand gegen das NS-Regime entspricht jedoch nicht der Wahrheit: »Wir« (nicht einzelne Kirchenleute wie Bonhoeffer) haben, so das Selbstlob, zwar aufrecht gekämpft, jedoch bedauerlicherweise wohl nicht engagiert genug. Kein Wort findet sich über die Ermordung der Juden, der Sinti und Roma, der »Euthanasie«-Opfer, kein Wort über die Verfolgung Andersdenkender und nichts über die Kriegsverbrechen. Nicht Verschweigen und Verdrängen gefährde den beschworenen »neuen Anfang«. Bedroht sei Nachkriegsdeutschland durch den »Geist der Gewalt und Vergeltung, der heute von neuem mächtig werden will«. Ein unverblümter Seitenhieb auf die Entnazifizierungs-Maßnahmen der Alliierten.

Allein dem Ökumenischen Rat der Kirchen ist die »Stuttgarter Erklärung« zu danken. Er hatte die EKD in Stuttgart zu einem klaren Wort zum NS-Terror gedrängt. Und so war der Text auch nur für die Ökumene bestimmt, nicht als politische Erklärung gedacht. Durch eine Indiskretion gelangte er dann doch an die Öffentlichkeit. »Evangelische Kirche bekennt Kriegsschuld«, titelte die Presse. In den Landeskirchen entbrannte der Streit. Auf die aller schärfste Ablehnung traf die Erklärung in Schleswig- Holstein, Hamburg und Eutin. Zur Entlastung wurde, wie oft zuvor und danach, die »einseitige Kriegsschuld« beschworen, die am deutschen Volk begangen worden sei, von den Verträgen von Versailles bis zu den anstehen den Nürnberger Prozessen. Die Landeskirchen sahen sich damit völlig im Einklang mit der kirchlichen Mehrheit.