1 Heimatvertriebene, Flüchtlinge und »Displaced Persons«

Ankunft ostpreußischer Geflüchteter im schleswig-holsteinischen Meldorf nach 1945, o.J.

Bundesarchiv 146-1987-058-09

Ausstellungsrundgang (Kapitel 1) mit Dr. Stephan Linck

Die evangelische Kirche spielte eine zentrale Rolle bei der Integration der Flüchtlinge aus den Ostgebieten. Das Thema Flucht und Vertreibung hatte auch großen Einfluss auf ihre politische Positionierung. Ignoriert wurde in der kirchlichen Öffentlichkeit der Nachkriegszeit aber zumeist, dass die Ursachen der Flüchtlingsströme und der katastrophalen Lage Deutschlands in der nationalsozialistischen Kriegspolitik zu suchen waren. Stattdessen wurde die Not der deutschen Bevölkerung vor allem den Besatzungsmächten angelastet.

Die evangelische Kirche, die sich anstrengte, deutschstämmige Flüchtlinge und Heimatvertriebene zu integrieren, engagierte sich nicht für die entwurzelten „Displaced Persons“, jüdische KZ-Überlebende und ins Deutsche Reich verschleppte Zwangsarbeiter und  Kriegsgefangene aus Osteuropa.

In der Ausstellung wird darüber hinaus die innerkirchliche Kontroverse um die Ostpolitik und die Flüchtlingsfrage dargelegt, die sich zu Beginn der 1960er Jahre entspann und starke Auswirkungen auf die politische Entwicklung und das gesellschaftspolitische Klima in der Bundesrepublik hatte.

»Jemand wider seinen Willen aus der Heimat vertreiben, heißt also, den Menschen aus dem … bergenden Bereich seines Daseins herauszuwerfen, heißt, was genauso schwer wiegt, ihn aus der Verantwortung, die Gott ihm auferlegt hat, herauszureißen. Und das ist vom Evangelium her verboten und ein bitteres Unrecht an dem Menschen.«

Mit dieser Aussage knüpften die im Jahr 1964 vom Vorsitzenden des Ostkirchenausschusses und anderen Theologen verfassten »Lübecker Thesen« an die Charta der Heimatvertriebenen von 1950 an, die »das Recht auf die Heimat als eines der von Gott geschenkten Grundrechte« postulierte.

»Wir kennen ihre Ursachen … die Zerstörung unseres Vaterlandes durch Bombenterror und Kriegshandlungen, die Vertreibung von annähernd 14 Millionen Deutscher aus den Gebieten östlich der Oder und Neiße, der verlorene Krieg, die Ausplünderung und wirtschaftliche Knebelung Deutschlands durch die Maßnahmen der Besatzungsmächte.«

Der BK-Theologe und Leiter des Evangelischen Hilfswerks in Lübeck, Julius Jensen, sah im Dezember 1946 die Schuld für den »deutschen Zusammenbruch« und den »ausgebluteten deutschen Volkskörper« bei den Besatzungsmächten.

»Im Urteil des Glaubens, das vom Geschichtshandeln Gottes weiß, hat Gott auch da seine Hand im Spiel, wo für das menschliche Urteil der Raub der Heimat mit Unrechtstaten der Menschen verbunden war. Er kann aus der alten Heimat herausführen und über die Heimatlosigkeit wieder eine neue Heimat schenken, die das irdische Leben sichert.«

Aus der Ostdenkschrift der EKD vom 1. Oktober 1965

»Vom Unrecht der Vertreibung kann aber nicht gesprochen werden, ohne dass die Frage nach der Schuld gestellt wird. Im Namen des deutschen Volkes wurde der Zweite Weltkrieg ausgelöst und in viele fremde Länder getragen. Seine ganze Zerstörungsgewalt hat sich schließlich gegen den Urheber selbst gekehrt. Die Vertreibung der deutschen Ostbevölkerung und das Schicksal der deutschen Ostgebiete ist ein Teil des schweren Unglücks, das das deutsche Volk schuldhaft über sich selbst und andere Völker gebracht hat.«

Aus der Ostdenkschrift der EKD vom 1. Oktober 1965

»Über 12 Millionen entwurzelter Menschen leben heute in Deutschland, Jugendliche wachsen heran, ohne Berufsausbildung, Familien vegetieren in feuchten, kalten Notquartieren. Väter, Gatten, vor der Flucht fleißige Arbeiter und stolz auf ihre Fachkenntnisse, können heute für den Unterhalt ihrer Frauen und Kinder nicht sorgen und sind gezwungen, von der Fürsorge zu leben. … Millionen sind noch dem Menschen aus dem Lukas-Evangelium zu vergleichen, von dem es heißt, dass er unter die Mörder fiel …«

Hintergrund: 12 Millionen Flüchtlinge und Vertriebene ab 1944

Mehr als 12 Millionen Flüchtlinge und Vertriebene aus den ehemaligen Ostgebieten des Deutschen Reiches und aus deutschsprachigen Siedlungsgebieten Osteuropas strömten ab 1944 in das Gebiet der heutigen Bundesrepublik Deutschland. Schleswig-Holstein nahm nach Mecklenburg-Vorpommern im Verhältnis zur Gesamtbevölkerung die meisten Flüchtlinge auf. Nach Kriegsende befanden sich dort zunächst außerdem hunderttausende befreite KZ-Häftlinge und Zwangsarbeiter, Evakuierte aus den zerbombten Großstädten und entlassene Wehrmachtssoldaten. Im ehemaligen Rückzugsgebiet der Wehrmacht hatte die britische Besatzungsmacht über eine Million deutscher Soldaten interniert. Die Bevölkerungszahl Schleswig-Holsteins stieg zwischen 1939 und 1949 um rund 70 Prozent von knapp 1,6 Millionen auf den Höchststand von 2,7 Millionen Einwohner an.

Die Lebensbedingungen waren schlecht. Die Flüchtlinge wurden in überfüllten Lagern, Kasernen, öffentlichen Gebäuden und privaten Haushalten untergebracht. Es mangelte an Lebensmitteln, Kleidung und Heizmaterial. Bezahlte Arbeit war knapp. Teilweise kam es zu Spannungen zwischen Flüchtlingen und Einheimischen. Diese schlossen sich im Landesteil Schleswig massenhaft der dänischen Minderheit an. Sie erhofften sich von einer Anbindung an Dänemark eine Verbesserung der Versorgungslage und vielfach auch die Ausweisung der Flüchtlinge.

Die Regierung unter Konrad Adenauer nutzte das Thema Flucht und Vertreibung, um ihre antikommunistische Haltung zu untermauern und die Westanbindung der Bundesrepublik zu forcieren. In der westdeutschen Nachkriegsgesellschaft wurde die Flüchtlingsfrage meist losgelöst vom deutschen Eroberungs- und Vernichtungskrieg betrachtet. Im Mittelpunkt stand die eigene Opferrolle.

In Folge des Zustroms der meistenteils evangelischen Flüchtlinge stieg die Zahl der Kirchenmitglieder in der schleswig-holsteinischen Landeskirche stark an. Auch die Gemeindegründungen nahmen stetig zu. Sie waren Ausdruck des voran getriebenen Siedlungsbaus zur Integration der Flüchtlinge. In der Landeskirche der halb zerstörten Hansestadt Hamburg dagegen sank die Zahl der Kirchenmitglieder zunächst eklatant. Erst nach dem begonnenen Wiederaufbau nahm auch hier ab Mitte der 1950er Jahre die Gründung von Kirchengemeinden zu.

Auch im Eutiner Schloss wurden Flüchtlinge einquartiert, 1949
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Integration der Flüchtlinge aus den Ostgebieten

Verteilung von Care-Paketen durch Evangelisches Hilfswerk und Innere Mission, 1952
Ein grundlegendes Prinzip des Hilfswerks war die Aktivierung der Selbsthilfe.
Bundesarchiv 194-0913-35 / Sammlung Hans Lachmann

Die evangelische Kirche spielte eine zentrale Rolle bei der Integration der Flüchtlinge aus den Ostgebieten. Im August 1945 wurde auf der Kirchenkonferenz in Treysa das evangelische Hilfswerk gegründet. Initiator und erster Leiter war der württembergische Theologe und spätere CDU-Politiker Eugen Gerstenmaier. In den vier nordelbischen Landeskirchen wurden noch im selben Jahr Hauptbüros des Hilfswerks eingerichtet. Zu seinen Aufgaben zählten Spendensammlungen, der Aufbau eines Suchdienstes, Siedlungsarbeit, die Unterstützung Jugendlicher bei ihrer Ausbildung, Hilfe bei Auswanderungsbemühungen und die Betreuung entlassener Kriegsgefangener.

1952 reaktivierten die schleswig-holsteinischen Bischöfe Wester und Halfmann das Hilfswerk, das seine Tätigkeiten inzwischen zeitlich eingeschränkt hatte. Anlass war der Plan verzweifelter Flüchtlinge, einen Treck vom schleswig-holsteinischen Ort Süderbrarup nach Süddeutschland zu organisieren. Denn die laut Umsiedlungsgesetz von 1949 vorgesehene gleichmäßige Verteilung der Flüchtlinge auf die einzelnen Bundesländer stagnierte. Gleichzeitig befanden sich die Flüchtlinge in Schleswig-Holstein, die häufig noch immer in überfüllten Lagern lebten, in einer elenden Situation. Den Bischöfen gelang es, eine vom Hilfswerk koordinierte und von den Landeskirchen Württembergs, Badens und der Pfalz unterstützte Umsiedlung in die Wege zu leiten. Das Treck-Vorhaben wurde daraufhin aufgegeben.

Zahlreiche Geistliche, die nach Kriegsende aus dem Osten geflohen waren, erhielten umgehend Dienstaufträge in den nordelbischen Landeskirchen. Denn viele der einheimischen Pastoren waren im Krieg gefallen, in Gefangenschaft geraten oder wurden vermisst. Pfarrer aus den Gebieten östlich der Oder-Neiße-Linie - so genannte Ostpfarrer - bekamen »Vorrang bei der Eingliederung in die landeskirchliche Arbeit«. Dagegen wurden die aus der SBZ beziehungsweise DDR stammenden Theologen zur Rückkehr aufgefordert. Dort gab es funktionierende Landeskirchen.

Bei der Integration der Flüchtlingspastoren und Kirchenmitglieder in die Landeskirchen zeigten sich Unterschiede. Ein Teil der Flüchtlinge hatte den Wunsch nach Eigenständigkeit. So forderte etwa der aus Königsberg stammende frühere BK-Theologe Hugo Linck eigene Vertriebenengottesdienste in der aus Ostpreußen vertrauten Liturgie. Er betonte die Fürsorgepflicht der »Ostpfarrer« an ihren vielfach von Traumatisierung betroffenen »zerstreuten Gemeinden«. Die schleswig-holsteinische Kirchenleitung wollte jedoch der Bildung von »Flüchtlingsgemeinden« vorbeugen und untersagte 1949 regelmäßige Flüchtlingsgottesdienste.

»Displaced Persons« am Rande der öffentlichen Wahrnehmung

Eine große Gruppe Menschen, die Vertreibung und Flucht erlitten hatten, stand in den Jahren nach Kriegsende ganz am Rand der öffentlichen Wahrnehmung: jüdische KZ-Überlebende, ins Deutsche Reich verschleppte Zwangsarbeiter, Kriegsgefangene der Wehrmacht und jüdische Nachkriegsflüchtlinge aus osteuropäischen Staaten. Diese »Displaced Persons«, deren Lebenswege durch NS-Terror und Zwangsmaßnahmen unterbrochen worden waren, sahen nach der Befreiung einer ungewissen Zukunft entgegen. In den westlichen Besatzungszonen zählte man um die 7 Millionen »DPs«, Menschen, die nicht oder nur mit alliierter Hilfe in der Lage sein würden, in ihre Heimat zurückzukehren.

Etwa eine Million »DPs« aus osteuropäischen Staaten wollten nicht zurückkehren, aus Angst, als »Kriegsverräter« behandelt oder als »Faschisten« diskriminiert zu werden. Die jüdischen Überlebenden der Konzentrationslager hatten Angehörige und Besitz verloren und hofften auf eine Ausreise nach Palästina oder in die USA. Ab 1946 kamen mehr als 100.000 Flüchtlinge, vor allem polnische Juden, aber auch Juden aus den Balkanstaaten, der Tschechoslowakei und Jugoslawien. Sie waren vor den Nationalsozialisten in die Sowjetunion geflohen, teils bis nach Sibirien. Zudem führten antisemitische Pogrome im Nachkriegs-Polen zu einer Massenflucht in die deutschen Westzonen. In der britischen Zone gab es etwa 130 »DP«-Lager, eingerichtet in ehemaligen NS-Lagern und öffentlichen Gebäuden. Unterstützung kam von UN-Hilfsorganisationen. Das britische Militär verfolgte das Ziel, alle »DPs« in ihre Ausgangsländer zurückzuführen, besonders strikt. Es bestand auf Registrierung, Überprüfung, ab 1947 auf Arbeitspflicht und versorgte die Lagerbewohner besser als die deutsche Bevölkerung. Ein großer Teil der »DPs« wurde bereits 1945 repatriiert. 1951 übergaben die Alliierten die verbliebenen »heimatlosen Ausländer« in die Zuständigkeit der Bundesrepublik, die sie mit deutschen Staatsangehörigen gleichstellte.

Die Bevorzugung durch die Allliierten, aber auch die Isolierung in Lagern waren Gründe für eine überwiegend feindselige Haltung der deutschen Bevölkerung gegenüber den »DPs«. Hinzu kamen antipolnische und antijüdische Ressentiments. Viele Deutsche hielten »DPs« sogar für Verbrecher, da sie ja Häftlinge gewesen seien. Erst ab 1948 trugen differenziertere Pressestimmen zum Verständnis bei.

Die evangelische Kirche, die sich anstrengte, deutschstämmige Flüchtlinge und Heimatvertriebene zu integrieren, engagierte sich nicht für die entwurzelten »DPs«. Das evangelische Hilfswerk, das angeblich keinen Unterschied bei der Konfessionszugehörigkeit der Hilfsbedürftigen machte, unterstützte aus dieser Gruppe nur die Christen jüdischer Herkunft.

Jüdische »Displaced Persons« im Lager Pöppendorf bei Lübeck, 1947
Das größte Flüchtlingslager in Schleswig-Holstein diente 1945 bis 1951 als Durchgangslager für eine Million Menschen: für ehemalige Wehrmachtsangehörige und Zwangsarbeiter, für Flüchtlinge und Vertriebene sowie 1947 für jüdische Überlebende, die versucht hatten, mit dem Schiff »Exodus« nach Palästina zu gelangen.
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