2 Antisemitismus und neue Begegnungen

Antisemitische Schmierereien an der Kölner Synagoge in der Nacht vom 24. zum 25. Dezember 1959 waren Auftakt für hunderte von ähnlichen Schändungen in den folgenden Wochen in der Bundesrepublik.
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Vom Völkermord an den Juden wollten die meisten Menschen im frühen Nachkriegsdeutschland nichts wissen. Gegen die offen gelegten Fakten über die deutschen Verbrechen schotteten sie sich ab.  Auch im kirchlichen Raum wurde das Leid der Juden ausgeblendet und verdrängt. Mitverantwortung und Mittäterschaft der Kirche an der Ausgrenzung der jüdischen Bevölkerung wurden bagatellisiert oder geleugnet.

Unter der Überschrift 'Antisemitismus und neue Begegnungen' geht die Ausstellung auf drei Themenfelder besonders ein.

Am Beispiel von Wilhelm Halfmann, der als Pastor an der Marienkirche in Flensburg im Jahr 1936 den Text „Die Kirche und der Jude“ verfasste, setzt sich die Ausstellung mit der Haltung des Verdrängens, Verschweigens und dem Festhalten an antisemitischen Denkmustern in den Landeskirchen auseinander.

Mit dem Leben und Wirken von Walter Auerbach, der 1935 als Pastor jüdischer Herkunft zwangsweise in den Ruhestand versetzt worden war, zeichnet die Ausstellung den innerkirchlichen Umgang mit den Christen jüdischer Herkunft nach. Gerade die Schleswig-Holsteinische Kirche betrieb, anders als die Hamburger, auch in der Nachkriegszeit weiterhin die Ausgrenzung von Christen jüdischer Herkunft.

Die nationalsozialistische Zerstörung der Jüdischen Gemeinden hatte auch die Jüdischen Friedhöfe getroffen. Die Ausstellung beschreibt den Weg der Kirche vom weitgehenden Desinteresse am Schutz der Jüdischen Friedhöfe bis zur eindeutigen Verurteilung der antisemitischen Grabschändungen Ende der 1970er Jahre.

»Wir müssen jetzt die Hand auf den Mund legen. Zu große Schuld haben wir auf uns geladen. Wir haben nicht die Vollmacht, kritisch über die Juden zu reden. Aber im eigenen Interesse dieses seltsamen Volkes möchte man so sehr wünschen, dass sie sich nicht wieder unbeliebt machen durch ihr Verhalten.«

Der emeritierte Propst Johannes Bielfeld aus Itzehoe, Chronist der Schleswig-Holsteinischen Bekennenden Kirche, schreibt Wilhelm Halfmann 1960 tröstende Worte zur Debatte um seine »Judenschrift« von 1936.

»Der Antisemitismus beginnt wieder sein Haupt zu erheben, teils in rohen und erschreckenden, teils in etwas zivilisierteren Formen.«

Der Lübecker Bischof Johannes Pautke warnt in einem Leitartikel der »Gemeinde« zum Israel-Sonntag 1950 davor, die »entsetzliche Ernte (zu) vergessen, die aus dem ungeheuerlichen Morden, das vor allem anderen an Juden geschehen ist, aufgegangen ist«.

»Noch nie ist ein Volk nach einem verlorenen Krieg so erniedrigt worden und in eine so hoffnungslose Lage gestoßen, wie wir heute«

In seinem Beitrag für die Jahreschronik 1945 der Melanchthon-Kirche in Altona trauert Pastor P. Laackmann um das Schicksal des deutschen Volkes. »Blitzkriegs«-Eroberungen im Westen, Vernichtungskrieg und Völkermord an den europäischen Juden spielen bei dieser Klage keine Rolle.

»Ich kann die christlich-jüdische Verbrüderung auf humanitärer Basis, unter Eliminierung der Theologie, nicht mitmachen.«

Der Satz stammt aus einem Brief des Bischofs Wilhelm Halfmann von 1960 an den Hamburgischen Landesbischof Karl Witte. Dieser hatte ihm sein Bedauern darüber ausgesprochen, dass seine antisemitische »Judenschrift« von 1936 nun wieder an die Öffentlichkeit gebracht worden war. »Wie tun Sie mir leid!«, schrieb Witte, »Dass man sich mit solchen Dingen abplagen muss! Die Presse ist doch eine gierige Meute und das Wort vom Rufmord leider nur zu wahr…«.

»…dass aber gegenwärtig dort, wo die Juden in großen Scharen aus dem Osten angesiedelt wurden, diese eine derart auffallende Lebensart zeigten, dass schon deswegen, also nicht aus rassischen Gründen, sich eine erhebliche Abneigung gegen sie geltend mache.«

Hintergrund: Über Verleugnung und Schuldbekenntnis zum Dialog

Die meisten Menschen im frühen Nachkriegsdeutschland wollten vom Völkermord an den Juden nichts wissen und waren mit ihren eigenen aus dem Krieg entstandenen Problemen beschäftigt. Auch im kirchlichen Raum wurde das Leid der Juden ausgeblendet und verdrängt. Mitverantwortung und Mittäterschaft der Kirche an der Ausgrenzung der jüdischen Bevölkerung, durch die denunzierende Tätigkeit der Kirchenbuchämter zum Beispiel, wurden bagatellisiert oder geleugnet.

Fast alle Juden aus Hamburg und Schleswig-Holstein waren vertrieben oder ermordet worden. Nach 1945 fanden sich in den Jüdischen Gemeinden nur wenige Juden zusammen. Sie waren wegen ihrer nichtjüdischen Ehepartner von der Deportation verschont worden, hatten sich verstecken können oder die Konzentrations- und Vernichtungslager überlebt. Von den Kirchengemeinden erhielten sie weder Unterstützung noch mitfühlende Zuwendung. Stattdessen traten die nordelbischen Kirchen auch nach 1945 für die »Judenmission« ein, den Auftrag, Juden zum Christentum zu bekehren. Antisemitische Überzeugungen – gerade auch von Amtsträgern – waren weiterhin wirksam, nun wieder im alten Gewand des theologischen Antijudaismus.

Der Eichmann-Prozess in Jerusalem 1961 und die Frankfurter Auschwitz-Prozesse 1963/65 offenbarten unfassbare Einzelheiten über die Ermordung der europäischen Juden. Unter diesem Eindruck zeigten auch die Kirchenleitungen Nordelbiens mehr Bereitschaft zu einer generellen Anerkennung der gesellschaftlichen Schuld an diesem Zivilisationsbruch. Allerdings war nur von den Opfern die Rede, nicht aber von den Tätern.

Antisemitische Haltungen der kirchlichen Instanzen erschwerten noch bis in die 1970er Jahre die Kontaktaufnahme mit den jüdischen Gemeinden. Zunächst begründeten Einzelne den christlich-jüdischen Dialog. In den Folgejahren nahm er feste Formen an, vor allem innerhalb der Hamburger Landeskirche – dank des Engagements der Gesellschaft für Christlich-Jüdische Zusammenarbeit und der Evangelischen Akademie.

Überschattet wurden diese neuen Dialogformen durch die politische Entwicklung in Nahost mit dem »Sechstagekrieg« und der Annexion eroberter Gebiete. Im kirchlichen wie im weltlichen Bereich, zum Beispiel in der Studentenbewegung, beeinflussten antisemitische Vorurteile die Beurteilung der Lage. 1975 fand in Hamburg die erste Konferenz zum »Holocaust« statt, damals noch ohne Resonanz in den deutschen Medien. Mitveranstalter war die Gesellschaft für Christlich-Jüdische Zusammenarbeit.

Nach Lübeck kamen 1945/46 mehrere tausend Holocaust-Überlebende, die meisten von ihnen aus Polen. Etwa 600 von ihnen wurden vorübergehend in der Lübecker Synagoge einquartiert, o.J. (vermutlich 1946) Die nordelbischen Kirchen bemühten sich nicht darum, mit diesen Flüchtlingen zu sprechen und herauszufinden, welche grauenvollen Erlebnisse sie hinter sich hatten.
Jüdische Gemeinde Lübeck/Benjamin Gruszka

Die Kontroverse um Wilhelm Halfmanns »Judenschrift«

Bischof Halfmann (hintere Reihe, Bildmitte, stehend mit Kreuz) auf dem Kirchentag, Hamburg, 1953
Dessen Motto lautete »Werft euer Vertrauen nicht weg«.
Landeskirchliches Archiv Kiel, 98.004 (Nachlass Halfmann, Wilhelm) unverzeichnet

»Die Kirche und der Jude« hieß ein Text, den Wilhelm Halfmann als Pastor an der Marienkirche in Flensburg im Jahr 1936 für die Bekennende Kirche verfasste. Vorsichtig kritisierte er darin den völkisch-rassistischen Antisemitismus der Nationalsozialisten. Zugleich rechtfertigte Halfmann aber mit religiösen Argumenten und zahlreichen Verweisen auf Luther die antijüdische Gesetzgebung des NS-Staates. Er schrieb: »Vielmehr werden wir von der Kirche her aus der bald zweitausend jährigen Erfahrung mit den Juden sagen müssen: der Staat hat recht.« Trotz dieser Zustimmung wurde Halfmanns Schrift damals von der Gestapo beschlagnahmt.

In der Nachkriegszeit setzt sich Halfmann, seit 1946 nun Bischof von Holstein, für NS-belastete Theologen und sogar für verurteilte Kriegsverbrecher ein. Dem christlich-jüdischen Dialog stand er ablehnend gegenüber. Als Anfang 1960 Auszüge aus seiner Schrift von 1936 an die Öffentlichkeit gelangten, sah er in dieser Aktion eine Verschwörung von »Ludendorffern, Atheisten, Sozialdemokraten und der DDR«. Seine damaligen Thesen zur »Geschichte der Juden« stellte er als nicht antisemitisch, sondern als rein theologisch begründet dar. Nach wie vor seien sie »sachlich richtig«, so Halfmann im März 1960. Die Landessynode und Kirchenleute, die ihm nahe standen, werteten Halfmanns »Judenschrift« weiterhin als Zeugnis seines Widerstandes gegen das NS-Regime. Sie schickten ihm mitleidsvolle Briefe und setzten alles daran, die öffentliche Kontroverse durch Schweigen leer laufen zu lassen – zumal die Schleswig-Holsteinische Landeskirche bereits eine Kette von Skandalen um Antisemitismus und um den Schutz von NS-Verbrechern hinter sich hatte.

In dieser Haltung des Verdrängens, Verschweigens und des Festhaltens am alten Gedankengut zeigte sich der Unterschied zur Lübecker Landeskirche. In kritischer Auseinandersetzung mit dem radikalen Antisemitismus der »Deutschen Christen« hatte diese tatsächlich versucht, die Weichen neu zu stellen. Halfmann hingegen führte nach 1945 antisemitische Denkmuster fort – als angeblich »in der Bibel gegründet«. Für ihn waren es die Juden selbst und die »Philosemiten, die eifervollen Schützer der Juden… mit ihrem nervösen Gebaren«, die eine »Normalisierung« des deutsch-jüdischen Verhältnisses verhinderten.